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Brexit: Unsicherer Blick in die Zukunft

Text: Patrick Kohlberger; Fotos: Carsten Schmale, Pixabay, Werkfoto

„The worst is yet to come“ („Das Schlimmste steht noch bevor“), postuliert die britische freie Journalistin Joanne Potter mit Blick auf die Folgen des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. Sie befürchtet weitreichende Konsequenzen für die britische Wirtschaft. Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen sieht im Brexit-Deal ein „Abkommen von historischer Bedeutung“, das den Weg zu einer fruchtbaren Kooperation beider Seiten ebne. Zwei Unternehmer aus dem heimischen IHK-Bezirk schildern im Wirtschaftsreport wenige Monate nach Ende der Übergangsfrist ihre ganz eigenen Erfahrungen und Impressionen.

„Mein persönlicher Eindruck ist, dass es momentan noch erhebliche Unsicherheiten bei allen Beteiligten gibt“, schildert Bernd Ginsberg, Geschäftsführer der Wegimed GmbH aus Siegen-Eiserfeld. Seine Firma vertreibt seit mehr als einer Dekade Stomaprodukte des britischen Herstellers Welland Medical Ltd., der im Süden Englands beheimatet ist. Die Qualität der Artikel sei freilich weiterhin über jeden Zweifel erhaben, stellt der Siegerländer mit aller Deutlichkeit fest. Auch schätze er den prinzipiell stets offenen und vertraulichen Dialog mit den Partnern auf der anderen Seite des Ärmelkanals.

Gleichwohl identifiziere er im Umgang mit dem Brexit sowie dessen rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen für die so sensible Arbeit in der Medizinbranche bisweilen erhebliche Schwierigkeiten: „Die britische Seite hat die Veränderungen lange ignoriert und sich sehr schlecht auf die Umstände vorbereitet, mit denen wir seit dem Ende der Übergangsfrist konfrontiert sind. Wir fühlen uns mit unseren Sorgen ein wenig im Stich gelassen.“ Die Kooperation mit einem anderen englischen Partner habe man daher inzwischen sogar bereits einstellen müssen.

Schon unmittelbar nach dem Brexit-Referendum, blickt Ginsberg zurück, habe er das Gespräch mit den Welland-Verantwortlichen gesucht, um alle denkbaren Szenarien zu diskutieren, wie es nach dem EU-Austritt Großbritanniens weitergehen könne. „Unsere Ansprechpartner fanden dies aber nicht wichtig – und nicht drängend. Stattdessen hieß es, man wolle erst einmal in Ruhe den Deal abwarten.“ Der sei dann zwar erfolgt, stelle aber kein Allheilmittel dar – vor allem nicht für Unternehmen, die Waren aus dem Vereinigten Königreich importieren. „Bei exportierenden Betrieben oder Firmen, die dort über Zweigstellen bzw. Filialen verfügen, sieht es natürlich anders aus, aber das bringt uns relativ wenig.“

Die Mentalität des „Aussitzens“ führe zielgerichtetes unternehmerisches Handeln ad absurdum. Bernd Ginsberg erinnert in diesem Kontext an ein konkretes Beispiel. Im Dezember 2020 standen vier Paletten mit Medizinprodukten der Firma Welland zur Abholung am Standort in Crawley bereit. So weit, so gut. Der Haken jedoch: Wegimed konnte den Abtransport der bereits fertig vorbereiteten Artikel für den EU-Markt nicht sofort einleiten, da der Hersteller erst einmal in die Betriebsferien überging. „Für uns bedeutete dies, dass wir die Ware erst im Februar abholen lassen durften – zu entsprechend deutlich schlechteren Konditionen, da die Brexit-Übergangsfrist ja zum Jahresende abgelaufen war. Wie man zu einem solch sensiblen Zeitpunkt Urlaub machen und die Partner im Regen stehen lassen kann, verstehe ich einfach nicht.“ Die Zollfreiheit für medizinische Produkte gilt zwar weiterhin. Die Siegerländer müssen jedoch seit dem 1. Januar 2021 merklich gestiegene Clearance-Kosten schultern und zudem die Einfuhrumsatzsteuer vorfinanzieren. „Bei monatlichen Bestellungen im Wert von bis zu 40.000 € kommt da natürlich eine ganze Menge zusammen“, ordnet der Unternehmer ein.

Unsicherheiten gebe es auch beispielsweise beim Blick auf die Problematik der Zolltarifnummern. „Ein Spediteur aus Düsseldorf fragte uns kürzlich nach einer elfstelligen Nummer. Vom englischen Hersteller kommen aber weiterhin achtstellige Nummern.“ In den ersten Monaten des Jahres hätten die Behörden immer mal wieder vermutlich noch ein Auge zugedrückt, wenn Unstimmigkeiten zu Tage getreten seien. „Aber inzwischen ändert sich das zunehmend.“ Ein „ganz heißes Eisen“ stelle auch das Thema Datenschutz dar, da Großbritannien ab dem 1. Juli nicht mehr an die entsprechenden Richtlinien der EU gebunden sei. „Trotz aller – hoffentlich vorübergehenden – Hemmnisse halten wir an der Kooperation mit dem Hersteller fest, denn die Qualität der Produkte ist wirklich einzigartig gut und aus unserer Sicht nicht ersetzbar. Unsere Kunden verspüren keinerlei Nachteile, weder durch Lieferengpässe noch durch steigende Preise.“

Einen ebenfalls ernsten Blick, aber aus einer etwas anderen Perspektive, wirft Wilhelm Dyckerhoff, Geschäftsführer der dy-pack Verpackungen Gustav Dyckerhoff GmbH aus Wenden, auf den britischen Markt. Das Unternehmen stellt Papiersäcke für den internationalen Export her. Das Vereinigte Königreich ist für die Sauerländer einer der wichtigsten Märkte Europas. Der Familienunternehmer selbst ist in England zur Schule gegangen, pflegt bis heute viele Freundschaften mit dort lebenden Menschen und zeigt sich noch immer enttäuscht über den Ausgang des Referendums. „Alle meine Freunde in England sind im Wirtschaftsleben aktiv – und alle sind nach wie vor bestürzt über den Brexit und die Folgen, die mit dem Austritt aus der EU einhergehen. Aber vor allem aus der jungen Generation sind seinerzeit einfach zu wenige Leute an die Wahlurne geschritten.“

Das Ergebnis der Abstimmung sei denkbar knapp gewesen. Viele hätten die Situation damals so eingeschätzt, dass die „Remain“-Befürworter trotz der starken Brexit-Kampagne gewinnen würden. „Heute stufen die jungen Menschen die Notwendigkeit als hoch ein, sich persönlich zu engagieren und sich für Europa einzusetzen. Mittlerweile haben sich die Mehrheiten in Großbritannien verändert.“ Eine erneute Abstimmung sei zurzeit zwar nicht wahrscheinlich, „aber wir dürfen den Kontakt nicht abreißen lassen. Falls es irgendwann ein neues Referendum geben sollte, wird es für die EU ausfallen.“ Vielleicht sehe die Lage nach dem Ende der aktuellen Legislaturperiode schon besser aus.

Rein geschäftlich gibt es auch für dy-pack Kostensteigerungen zu verzeichnen, die nun aktiv mit Kunden verhandelt werden. Langfristig sei freilich mit einer erhöhten Wettbewerbsintensität zu rechnen, prognostiziert Dyckerhoff. Über den Jahreswechsel habe man mit erheblichen Verzögerungen gerechnet. Letztlich sei aber alles verhältnismäßig ruhig über die Bühne gegangen. Kurz vor Weihnachten habe es Ausfälle im Frachtverkehr gegeben – nicht zuletzt bedingt durch eine im Zuge der Corona-Pandemie gestiegene Nachfrage. Auch zu Beginn des laufenden Jahres hätten sich mitunter leichte Verzögerungen ergeben, die nun allerdings in die regelmäßige Planung einbezogen seien.  

Ein wichtiger Punkt, den Dyckerhoff zurzeit regelmäßig mit seinen Kunden in Großbritannien diskutiert, ist die Frage nach Lagerkapazitäten. „Der Bedarf nach mehr Lagerflächen entspringt natürlich der Sorge, dass es gravierende Lieferengpässe geben kann. Wenn alles rundläuft, braucht man diese Lagerflächen nicht, weil man die Waren direkt verwerten kann.“ Wie es tatsächlich um die wirtschaftliche Lage Großbritanniens bestellt sei, könne man momentan – vor allem mit Blick auf die kommenden Monate – noch schwer einschätzen. „Da braucht es schon die berühmte Glaskugel.“ Einige Branchen jedoch seien zumindest aktuell noch gut unterwegs. In jedem Fall aber sei es positiv zu bewerten, dass es keinen „chaotischen Brexit“ gegeben habe.

Der Handel deutscher Unternehmen mit Großbritannien ist insgesamt betrachtet rückläufig. „Im vergangenen Jahr – also noch im Übergangszeitraum – sind für fast 67 Mrd. € Waren ins Vereinigte Königreich geliefert worden. Die Exporte sind damit gegenüber 2019 um 15 % zurückgegangen“, erläutert Jens Brill, Leiter Außenwirtschaft der IHK Siegen, das geringere Exportvolumen. Vor dem Brexit-Referendum stand Großbritannien auf Rang 3 der größten deutschen Handelspartner. Seitdem ging es auf Rang 5 zurück. Jens Brill schaut voraus: „Erwartbar ist, dass dieser Negativtrend noch etwas anhält, ungeachtet des zwischenzeitlich vorliegenden Handelsabkommens. Aufgrund der Corona-Pandemie war der Handel ohnehin gedämpft, weshalb zum Beispiel Warenstaus und Verkehrsprobleme zwar erheblich waren, aber trotz allem nicht in dem horrenden Ausmaß entstanden sind, wie zunächst befürchtet worden war. Wenn der Handel wieder mehr Fahrt aufnimmt, könnten aber auch bislang noch nicht entscheidend zum Tragen gekommene Engpässe deutlichere Wirkung zeigen.“ Das Vereinigte Königreich kündigte jüngst an, aus diesem Grunde physische Kontrollen von EU-Importen um ein halbes Jahr zu verschieben. Brill: „Ohne Pragmatismus beider Seiten kann man aus der nun einmal gegebenen Situation auch nichts gewinnen. Der Handel mit Großbritannien mag eingebrochen sein, doch ist er unverändert wichtig für deutsche Unternehmen.“

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