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Kai Gieseler - Kunst auf vielen Wegen

Text: Brigitte Wambsganß, Foto: Privat

Fotografie, Skulptur, Malerei, Videos und Lichtinstallationen – Kai Gieseler ist in vielen Kunstrichtungen zuhause. Spezialisieren möchte sie sich nicht: „Ich versuche, die Dinge zu kombinieren.“ Das gelingt ihr auf eine ganz eigene Weise. Dabei geht es der Freudenberger Künstlerin nicht nur um das Ergebnis ihrer Arbeit, sondern auch um den Weg zu ihrem Ziel. Das macht auch der Titel der Ausstellung deutlich, die vom 29. Oktober bis zum 7. Januar in der IHK Galerie in Siegen zu sehen ist: „Wenn man vermutet, dass mehrere Faktoren einen Prozess beeinflussen“.

Der Titel weist zugleich auf ein aktuelles Projekt Kai Gieselers hin: Sie verarbeitet das Abholzen großer Fichtenflächen infolge der vergangenen heißen Sommer und des Borkenkäferbefalls mit künstlerischen Mitteln. Eine dieser Freiflächen im Freudenberger Wald fotografierte sie digital und wandelte die Daten der Fotos, das heißt die Hell- und Dunkelheitsverteilung, in Säulendiagramme um. Die in reizvoller Farbabstufung auf dunklem Grund übereinander angeordneten Histogramme wirken wie eine Landschaft aus Erhebungen und Tälern. Stufe für Stufe verdrängen sie den dunklen Untergrund. Sie stehen – so die Künstlerin – gleichzeitig für die nicht mehr vorhandenen „Fichtengruppen und für eine neue Fülle: Es wächst etwas Neues.“

Der Wald spielt für Kai Gieseler eine große Rolle. Auch auf dem viel genutzten Freudenberger „KulturFlecken-Weg“, der an zahlreichen Objekten und Installationen entlangführt, begegnet man einem Werk der Künstlerin. Zwischen parallel angepflanzten Buchen leuchten in gleichmäßigen Reihen und Abständen angeordnete Betonquader in hellen bis dunklen Grüntönen: Kai Gieselers „Farbkarten“. Sie ließ sich bei der naturnahen Installation von den „Flecker“ Fachwerkhäusern inspirieren: Die Baumreihen symbolisieren die miteinander verstrebten Holzbalken, die „Karten“ die dazwischen liegenden Gefache aus Lehm und Stroh. Alles ist gründlich durchdacht: „Ich plane gerne vor.“

Manchmal lässt sie aber „auch viele Dinge zu“. Wie bei ihren Cyanotypien (Eisenblaudrucken): Das alte fotografische Edeldruckverfahren, das intensiv mit der Farbe Blau spielt, entsteht in der Dunkelkammer. „Sie sind eine Mischung aus Malerei und Fotografie.“ Kai Gieseler „malt“ dabei mit Chemie. Genauer: Sie trägt in der Dunkelkammer mit dem Pinsel lichtempfindliche Eisensalze auf Papier oder Stoff auf und lässt bewusst Stellen frei. Es folgen Belichtung unter UV-Licht, Wasserbad und Trocknung. Außerdem werden feine Linien, geometrische Gebilde, Skizzen und technische Maschinenzeichnungen im Bearbeitungsprozess auf die Malereien übertragen. „Die Cyanotypien kann ich beeinflussen, aber es geschieht bei dem Prozess auch Überraschendes. Es entsteht in der Summe ein Bild, ein komplexes Gefüge, das eine Architektur der Chemie ergibt." Die blauen Flächen sind keineswegs monochrom, sondern voller Spuren, die der Pinsel und das Licht hineingezeichnet haben. Überraschendes haben auch ihre „Laborbilder“ zu bieten. Anlass für die experimentellen Arbeiten war eine geplatzte künstlerische Intervention, ein Feldspaziergang mit eingeladenen Besuchern, auf der Kai Gieseler mit der Einwegkamera Fotos für eine Ausstellung machen wollte. Die „Wanderung“ verlegte sie später ins Labor. In der Dunkelkammer öffnete Kai Gieseler die unbenutzte Einwegkamera. Sie legte den nicht entwickelten Film unter das Vergrößerungsgerät. Dieses belichtete gleichzeitig Film und Fotopapier. Das Ergebnis: zarte, verschwommene Schwarz-Weiß-Fotos mit dunklen Schatten, Linien und feinen Punkten: Aneinander gereiht ergeben sie einen fiktiven Weg. Kai Gieseler: „Sie werden zu Stellvertretern einer Wanderung, die ich in der Vorstellung Dutzende Male gegangen bin.“

Objekte der ganz besonderen Art sind ihre aufgeschnittenen und flach gewalzten Orgelpfeifen. Dass es sich um die Teile eines Musikinstrumentes handelt, entdeckt man erst beim genauen Hinsehen: Die mit Holz gerahmten Metallstücke wirken wie abstrakte Aquarelle in zarten Rosé- und Blautönen – sie sind gemalte Musik. In einige Pfeifen blies Kai Gieseler vor dem Aufschneiden hinein und zeichnete die dabei entstehenden Töne auf. Die Diagramme ergänzen einige der Orgelpfeifen-Objekte. Aus hölzernen, ebenfalls aufgeschnittenen Pfeifen baute sie, wie sie es selbst beschreibt, „treppenartig angeordnete und sich in der Höhe verjüngende Plastiken“. Wie bei vielen ihrer Werke stecken hinter dieser, von ihr entwickelten Technik kluge Gedanken: „Die Orgelpfeifen werden ihrer eigentlichen Nutzung entledigt – Kunst ermöglicht hier ein Transponieren in eine andere Tonart.“

Kai Gieseler arbeitet nicht nur mit harten, sondern auch mit extrem zarten Materialien – mit Seide. Ihre faszinierende Installation „Ohne Lilo“ besteht aus 800 mal längeren, mal kürzeren Streifen, die wie ein üppiger, zerzauster weißer Vorhang an einer fünf Meter langen Gewindestange von der Decke hängen. Die Seidenstücke stammen von einem Brautmode-Atelier in Köln. Es sind kostbare, aber nicht mehr verwendbare Stoffreste, die beim Zuschnitt der Brautkleider anfallen. „Sie waren mir aber zu weich, ich habe experimentiert und sie in eine Zuckerlösung getaucht“, erzählt die Künstlerin. Kai Gieseler holt beim Besuch in ihrem Haus in Alchen ein Stück Stoff aus einem Karton: Es bleibt stehen. „Lilo“ hieß übrigens eines der Modelle, von denen die Schnittreste stammen. Sie sind beim Schneidern übriggeblieben, deshalb sind sie nun „ohne Lilo“. Die gezuckerte Seide eignet sich auch für große Bodeninstallationen: Die Künstlerin überzog damit mehrere in der Forstwirtschaft genutzte Baumschutzhüllen, die sie zu einer akkurat angeordneten, lichten Bodenplastik arrangierte. Die Idee dahinter: Mit einem Schnittmuster könne man immer wieder die gleichen Kleider zuschneiden. Genauso würden die unterschiedlichen Seidenreste „durch die Abformung des gleichen Gegenstandes ebenfalls einem wiederholbaren Verfahren und Ergebnis zugeführt.“

Im Flur des Hauses fällt ein kleiner, gepflegter Holzkoffer ins Auge. Er gehörte dem 2007 verstorbenen Siegerländer Künstler Uli Bossmann. Der Inhalt: Gesammeltes aus der Natur und Alltagsdinge. Steine, Schrauben, Nägel, Schlüssel. Aber auch Schnipsel von Fotos mit Anmerkungen des Künstlers. Der kleine Koffer enthält einen unerschöpflichen Fundus für Kai Gieseler. Für ihr 2016 entstandenes Werk „Die Dinge sind die Orte“ fotografierte sie jedes Kleinteil einzeln. Bei der digitalen Nachbearbeitung brachte sie alle Teile auf die gleiche Größe – und schuf daraus ein eindrucksvolles Wand-Mosaik. Es ist eine Hommage an einen Künstler, den sie nicht persönlich kannte. Wie kommt der Titel zustande? „Das Material, alle Fundstücke, alle Schnipsel, auch der Müll, haben ihren Ort verloren. Jetzt sind die Dinge der Ort“, erklärt sie.

Fotografien erzählen Geschichten. Welche Geschichten Uli Bossmann erzählen wollte, kann niemand anhand der im Koffer gefundenen Fotoschnipsel wissen. Kai Gieseler schuf auf faszinierende Weise mithilfe der Angaben, die er darauf notiert hat, neue „Farbbilder“. Sie fütterte die Farbentwicklungsmaschine mit den Belichtungs- und Farbwerten. Das Ergebnis verblüfft: In der Mitte entstand eine dunkle Fläche, umgeben von einem breiten Rahmen aus starken, ineinander verlaufenden Farben. Kai Gieseler hat aus etwa 800 Farbstreifen 75 Bilder ausgewählt, zu einer Bilderkette aneinandergereiht und diese gefilmt. „Stumme Narrative“, also Erzählungen, nennt sie die Videoinstallation aus dem Jahr 2018. Aus diesem Video hat sie wiederum einige Bilder isoliert und daraus eine Reihe von Fotografien („Timelines“) im Maß 90 mal 30 cm mit impressionistisch anmutenden Farbverläufen gestaltet. Kai Gieseler will Uli Bossmann übrigens nicht kopieren, sondern aus dem von ihm hinterlassenen Material Neues schaffen: „Ich bin nicht Uli Bossmann. Ich bin Kai Gieseler.“

Ihr Interesse an der und ihre Begabung für die Kunst entdeckte Kai Gieseler relativ spät. Damals, sie war Mitte 30, Mutter von zwei Kindern und hatte einen guten Bürojob, begeisterte sie sich für den kreativen Kunstunterricht in der Grundschule ihrer Töchter. Sie hospitierte bei der mit ihr befreundeten Kunstpädagogin Ulrike Bossmann, über die sie auch die Materialien von Uli Bossmann bekam. Schließlich bewarb sie sich 2011 an der Universität Siegen für das Studium der Bildenden Kunst und der Bildungswissenschaften für das Lehramt: „Meine erste Mappe ging durch. Schon im ersten Semester habe ich gemerkt, dass das Studium meins ist.“ 2015 bekam sie bereits den RWE-Kunstförderpreis, und 2018 bestand sie das 1. Staatsexamen in Kunstpädagogik an Gymnasien und Gesamtschulen. Es folgte die Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Siegen. Kai Gieseler ist seit langem Dozentin an der Jugendkunstschule des Kreises Siegen-Wittgenstein und im Atelier Bismarckplatz, beides in Siegen. Seit 2017 ist sie Mitglied der Siegener „Gruppe 3/55“, die regelmäßig Ausstellungen und Aktionen in der Region zeigt. Kai Gieselers Werke waren bisher in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen – unter anderem in der Städtischen Galerie Haus Seel, im „Brauhaus“ der Universität Siegen, im Kulturbahnhof Kreuztal und im KulturFlecken Silberstern Freudenberg. Sie publiziert außerdem wissenschaftliche Texte zum Thema Kunst.

Patin der in Kooperation mit dem Kunstverein Siegen konzipierten 68. Ausstellung in der Reihe IHK Galerie ist Ute Bommer, Prokuristin der Maschinenfabrik Herkules GmbH & Co. KG, Siegen.

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