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Nr. 071: Zuviel Bauchgefühl – zu wenige Fakten „Goldene Dekade“ machte Corona-Hilfsprogramme erst möglich

10.09.2020 | Es war eine Premiere im Haus der Siegerländer Wirtschaft in Siegen. Nach fast sechs Monaten Lockdown und massiven Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, hatten IHK Siegen und Unternehmerschaft Siegen-Wittgenstein zu einer ersten größeren Vortragsveranstaltung eingeladen, an der allerdings lediglich 80 Zuhörerinnen und Zuhörer, verteilt auf mehrere Räume, teilnehmen durften. Deshalb wurde der Vortrag von Professor Michael Hüther, dem Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, auch von der tco-event GmbH per Livestream ins Internet übertragen. Und das hat sehr gut funktioniert.

„Die Rückkehr des Staates – Wirtschaftspolitik in Zeiten von Corona“, so lautete das Thema, mit dem sich Professor Hüther gut eine Stunde intensiv befasste. „Wir haben aus der Krise bis heute viel gelernt. Beispielsweise ist das Bruttoinlandsprodukt nicht so stark eingebrochen, wie wir das zu Beginn der Krise befürchtet haben.“ Dennoch sei es richtig gewesen, dass der Staat mit seinen außerordentlich großen Hilfsprogrammen versucht habe, die Wirtschaft zu stützen. „Das ist ja schließlich auch seine Aufgabe“, so Professor Hüther weiter. Die Krise zieht sich durch alle Branchen. Besonders schwierig sei die aktuelle Lage beispielsweise bei den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie. „Durch die Corona-Krise wurden bereits vorher bestehende Probleme deutlich.“ Durch den massiven Rückgang beim privaten Verbrauch seien aber auch der Handel und die Dienstleistungsbranche von der Krise besonders betroffen.

„Dass der Staat so massiv mit einem viele Milliarden Euro schweren Konjunkturprogramm eingreifen konnte, liegt auch daran, dass die Steuereinnahmen in den letzten zehn Jahren seit der Finanzkrise 2008/2009 kräftig angestiegen sind und die Schuldenquote um 20 Punkte von 80 auf 60 Prozent des BIP verringert werden konnte.“ Ursächlich dafür war aus Sicht des IW-Direktors die deutliche Zunahme der Beschäftigung. „Wir lagen mit der Erwerbsquote vor der Pandemie zuletzt bei 80 Prozent. Das ist ein sehr hoher Wert, den weder wir noch unsere OECD-Partner bisher jemals erreicht haben.“

Die „goldene Dekade“, wie Professor Hüther die Zeit nach der Finanzkrise bezeichnete, habe für den Staat eine solide Ausgangsbasis geschaffen, um in der aktuellen Krise aktiv zu werden. Allerdings könne man davon ausgehen, dass eine vergleichbare Konsolidierung der Staatsfinanzen nach Corona nicht zu erwarten sei. „Wir werden die Beschäftigungsquote nicht weiter steigern können. Deshalb wird es länger dauern, die jetzige krisenbedingte Neuverschuldung wieder zurückzuführen.“

Auch wenn Professor Hüther das Eingreifen des Staates als notwendig und sinnvoll bezeichnete, so machte er doch auch deutlich, dass diese Maßnahmen zeitlich befristet bleiben und nach der Krise wieder zurückgeführt werden müssten. Die eigentliche Aufgabe des Staates sei ja die Bereitstellung einer leistungsfähigen Infrastruktur. Und da gebe es nach wie vor noch genug zu tun. „Wenn die Corona-Krise vorbei ist, muss sich der normale Strukturwandel fortsetzen. Nur so kann die Industrie auch weiterhin international wettbewerbsfähig bleiben. Eingriffe des Staates, und sei es als Beteiligung bei mittelständischen Unternehmen, schaden da nur“, ist Professor Hüther überzeugt.

„Was durch die Corona-Krise und ihre Folgen ebenfalls ausgelöst wurde, ist ein politischer Pragmatismus, den wir bislang so noch nicht gekannt haben“, unterstrich Professor Hüther. Das gelte für Deutschland, aber auch für die Europäische Union. Das Hilfspaket, das von der EU aufgelegt worden sei, sei ja nichts anderes, als die früher so kritisierten Eurobonds. Die Entscheidung dafür sei richtig gewesen, denn Europa befinde sich in einer globalen Konfliktlage, die vor allem von den USA und China befeuert würde, und mit der man nur geschlossen umgehen könne. „Das geht nur in und mit Europa“.

Welche Trends werden nach der Krise nachwirken? Auch darauf ging Professor Hüther in seinem Vortrag ein. Man werde auch weiterhin mit dem jetzigen niedrigen Zinsniveau leben müssen. „Da werden wir nicht mehr herauskommen. Dafür steht viel zu viel Kapital zur Verfügung.“ Die Digitalisierung sei weiterhin ein zentrales Thema für die Wirtschaft, aber auch für die Gesellschaft. Das gelte insbesondere für das Bildungssystem. „Ich kann nicht nachvollziehen, warum die Kommunen und die Bildungseinrichtungen die Zeit nach dem Lockdown im März nicht genutzt haben, um ihre Infrastruktur so auszubauen, dass digitaler Unterricht möglich ist.“ Auch die Dekarbonisierung, der Umstieg auf eine kohlenstoffärmere Wirtschaft, sei eine der großen Zukunftsherausforderungen. Vor diesem Hintergrund äußerte Professor Hüther die Hoffnung, dass die zukünftigen Entscheidungen der politisch Verantwortlichen wieder mehr auf der Grundlage von Fakten getroffen werden und nicht wie bisher zu häufig aus dem Bauchgefühl heraus.

Felix G. Hensel, Präsident der Industrie- und Handelskammer Siegen, hatte den Referenten und die erschienenen Gäste, ebenso wie die Zuseher und Zuhörer des Livestreams, zu Beginn der Veranstaltung begrüßt. „Ich freue mich, dass wir endlich wieder eine solche Vortragsveranstaltung durchführen können, wenn auch noch mit gewissen Einschränkungen.“ Die Auswirkungen der Corona-Krise seien noch allerorts zu spüren. Besonders gravierend seien sie für die Wirtschaft. Es werde lange dauern, die Folgen zu verarbeiten.

Im Lauf der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass viele Unternehmer skeptisch sind, ob die deutsche Politik und Bürokratie schnell genug und angemessen auf die Herausforderungen durch Energiewende, Demografie und Digitalisierung reagieren können. Jörg Dienenthal, Vorsitzender der Unternehmerschaft Siegen-Wittgenstein,  griff dies in seinem Schlusswort noch einmal auf und betonte, dass sich der Staat nach der Krise wieder auf seine eigenen Aufgaben konzentrieren müsse, denn er sei ein schlechter Unternehmer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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