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Nr. 030: Corona wird Wirtschaftsleben dauerhaft verändern - IHK sieht große Verunsicherung und weitreichende Folgen durch die Krise
02.04.2020 | „Die Verunsicherung ist in weiten Teilen der heimischen Wirtschaft mit Händen zu greifen.“ Mit drastischen Worten beschreibt IHK-Präsident Felix G. Hensel die aktuellen und langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf den Wirtschaftsstandort Siegen-Wittgenstein/Olpe. „Einzelhandel und Gastronomie sind wichtige Schaltstellen auf dem Weg zurück in die gesellschaftliche Normalität. Aber ausgerechnet hier kämpfen die Betriebe nicht nur um ihre Existenz, sondern auch, und das betraf insbesondere die letzten Tage, mit vielen offenen Fragen bei der Lockerung von Beschränkungen.“ Dass im Regelfall nur Einzelhandel mit einer Verkaufsfläche bis 800 m² öffnen dürfe, sei nur bedingt nachvollziehbar. So könnten große Geschäfte die Einhaltung von Abständen „mindestens genauso gut“ gewährleisten. Unverständlich sei auch, dass diesen Geschäften nicht erlaubt sei, Teile ihrer Verkaufsflächen abzusperren. Solch willkürliche Festlegungen seien nicht nachvollziehbar. „Der s.Oliver-Shop in der City Galerie darf öffnen, dasselbe Produkt darf man im Kaufhaus Wagener oder im Bekleidungshaus Schulze jedoch nicht erwerben. So gewinnt man keine Akzeptanz im Handel“, betont der IHK-Präsident.
Gänzlich außen vor blieben bei den Lockerungen die rund 800 Gastronomiebetriebe im Kammerbezirk. Hier hätte sich die IHK ebenfalls ein deutliches Signal gewünscht. Diese Branche habe es auch in normalen Zeiten nicht leicht. Jetzt seien viele Betriebe unmittelbar in ihrer Existenz gefährdet. Felix G. Hensel: „Vielen stand schon kurz nach der Schließung sprichwörtlich das Wasser bis zum Hals. Ich appelliere nachdrücklich an alle heimischen Abgeordneten in Bund und Land, diesen Betroffenen möglichst schnell eine Perspektive auf Öffnung zu geben.“
„Mehr als einschneidende Veränderungen“
In der öffentlichen Diskussion zu den Auswirkungen von Corona kommen aus Sicht der IHK vor allem zwei Aspekte zu kurz. Zum einen konzentriere sich die Debatte sehr auf die gegenwärtigen Probleme. Zum anderen würden die Folgen für die Industrie zu wenig beleuchtet. IHK-Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener: „Wie schwerwiegend die Corona-Folgen wirklich sind, wird sich erst in einigen Monaten deutlicher zeigen. Es gibt, nicht nur in der Industrie, durchaus Betriebe, die im ersten Quartal noch gute Umsätze machten, denen aber jetzt die Aufträge teilweise komplett wegbrechen. Das hat mit einer geschwundenen Nachfrage im In- und Ausland ebenso zu tun wie mit unterbrochenen Lieferketten, die eine Produktion verhindern.“
Kurz- und mittelfristig sei mit Auswirkungen zu rechnen, deren Dimensionen man derzeit noch gar nicht exakt erfassen könne. Halte flächendeckend die Kurzarbeit bei vielen Unternehmen an, bedeute dies auch geringere Einkommen und damit ein verändertes Kaufverhalten. Wer glaube, auf Dauer mit niedrigeren Nettoeinkünften rechnen zu müssen, kaufe eben kurzfristig weder neue Pkw noch neue Möbel. Dies wiederum werde in den Kassen des Einzelhandels spürbar. Wenn sich Home-Office und Videokonferenzen etablierten, lasse dies die Auslastung und den Bedarf an Hotels und Tagungsstätten schwinden und sorge zukünftig womöglich dazu, dass Büro- und Verwaltungsgebäude deutlich schlanker geplant und realisiert würden. „Diese Krise betrifft nahezu alle wirtschaftlichen Bereiche – und das gleichzeitig. Dieses Ausmaß ist einmalig“, betont Klaus Gräbener. Nicht alle Folgen müssten zwingend negativ sein: „Sollte sich herausstellen, dass sich Lerninhalte hervorragend auch online vermitteln lassen, wird sich dies perspektivisch auch auf den Neubau und die Unterhaltung unserer Schulinfrastruktur auswirken. Dies wiederum kann die öffentlichen Kassen erheblich entlasten. So oder so: Corona bringt für das Wirtschaftsleben mehr als einschneidende Veränderungen.“
Maßgeblich für den heimischen Wirtschaftsraum seien mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 17 Mrd. € zweifellos die Industriebetriebe. Aus dem Blickwinkel der Beschäftigung gelte diesen Unternehmen die größte Sorge, erläutert IHK-Präsident Felix G. Hensel. Es sei beinahe schon in Vergessenheit geraten, dass etwa die Automobilzulieferindustrie ohnehin mitten in einem Strukturwandel stecke, weil sich der Fokus zur E-Mobilität verschiebe. Corona verstärke die damit einhergehenden Risiken. Das ifo-Institut hat den volkswirtschaftlichen Schaden eines zweimonatigen Stillstands für den günstigsten Fall auf 255 Mrd. € beziffert. Hensel rechnet vor: „Das bedeutet einen Verlust für den heimischen Wirtschaftsraum von circa 30 Mio. € täglich (!). Es geht dabei auch nicht um die Interessen der Wirtschaft alleine, sondern um gesamtgesellschaftliche Interessen.“ Jeder könne sich ausrechnen, was es bedeute, wenn den Städten und Gemeinden die Steuereinnahmen wegbrächen. Auch deshalb sei es wichtig, dass die Wirtschaft grundsätzlich so schnell wie möglich wieder Tritt fassen könne, wenn auch unter den gebotenen Sicherheitsvorkehrungen.
Klaus Gräbener warnt in diesem Zusammenhang vor überzogener behördlicher Überwachung. Die Betriebe träfen schon im eigenen Interesse ganz bewusst geeignete Schutzmaßnahmen. Das zeigt eine aktuelle Befragung von IHK NRW, an der sich auch Unternehmen aus den Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe beteiligten. Die Unternehmen bereiten sich demnach gezielt vor. 84 % setzen darauf, die Einhaltung der Mindestabstandsregeln zu gewährleisten, 74 % stellen Kunden und Mitarbeitern Desinfektionsangebote zur Verfügung, 55 % stellen den Beschäftigten Gesichtsschutz und Handschuhe zur Verfügung, mehr als die Hälfte der Betriebe ersetzt persönliche Kundentermine, etwa durch Telefonate oder Videokonferenzen. „Was die Betriebe jetzt nicht brauchen, sind zeitraubende, bürokratische Hygieneüberwachungskontrollen“, berichtet Klaus Gräbener.
Was ist mit den Auszubildenden?
Seit Jahren sei zu beobachten, dass sich öffentliche Bildungsdiskussionen fast ausschließlich auf Studierende und Schüler weiterführender Schulen konzentrieren. Dies zeige sich auch in der Corona-Krise, ärgert sich IHK-Geschäftsführer Klaus Fenster. Während landauf, landab eingehend über Sonderwege bei der Öffnung weiterführender Schulen, über Abiturprüfungen und Seifen in Schultoiletten diskutiert werde, sei über die berufsbildenden Einrichtungen bislang kaum ein Wort verloren worden. Klaus Fenster: „In unserem Kammerbezirk sind von den Schutzmaßnahmen zur Corona-Krise fast 3000 Auszubildende betroffen, die im Frühjahr ihre Zwischen- oder Abschlussprüfungen bzw. Teil-1- und Teil-2-Prüfungen zu absolvieren haben. Auch für diese Menschen sind die bestehenden Unsicherheiten eine große Belastung.“
Die IHKs planten bundesweit eine Verschiebung dieser Prüfungen in den Mai und Juni. Sie hätten zudem die Durchführung von Zwischenprüfungen, die keinen Einfluss auf die Abschlussnote haben, ausgesetzt, erläutert der Geschäftsführer. Diese Planungen gehen laut Klaus Fenster davon aus, dass Prüfungen ab dem 4. Mai wieder durchgeführt werden können. Klare Aussagen hierzu – und auch zu den zu treffenden Hygieneschutzmaßnahmen – seien aber aktuell weder vom Bund, der für die Berufsbildung zuständig sei, noch vom Land zu erhalten.
Auch die Durchführung der Berufsausbildung ist durch Corona massiv beeinträchtigt. Betriebe in Kurzarbeit verordnen Heimarbeit für Azubis. „Die überbetrieblichen Bildungseinrichtungen sind kraft behördlicher Anordnung geschlossen. Weder Bund noch Land äußern sich klar dazu, wann diese Einrichtungen den Betrieb wieder aufnehmen dürfen. Aus dem industriellen Bereich im Kammerbezirk betroffen sind die LEWA Attendorn, das Bildungszentrum Wittgenstein und das bbz in Geisweid. Aktuell gehen wir davon aus, dass es am 4. Mai weitergeht. Sicher ist dies jedoch nicht“, unterstreicht Klaus Fenster.
Insgesamt habe der Staat schnell gehandelt und sei bei den bereitgestellten Hilfen nicht mit dem Stilett, sondern mit der Schrotflinte vorgegangen. „Beides war sicher richtig“, fasst Felix G. Hensel zusammen. Gleichwohl dürfe man sich keinen Illusionen hingeben: Der Staat werde für den Corona-Schutzschirm in nie dagewesenem Ausmaß Schulden anhäufen. „Die Rechnung hierfür wird kommen. Die finanziellen Spielräume der öffentlichen Hand werden künftig begrenzt sein. Der eine oder andere wird dann wieder auf Steuererhöhungen schielen. Die allerdings können die Unternehmen am wenigsten gebrauchen.“
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