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vyn marketing GmbH - Integration mit Vorbildcharakter
Text: Patrick Kohlberger, Fotos: Werkfotos
„Beide Seiten profitieren voneinander – auf ganz unterschiedlichen Ebenen“, betont Sascha Weinrich, Inhaber der vyn marketing GmbH aus Siegen. Im Sommer 2019 verstärkte der Unternehmer sein Team mit einem Neuzugang, der eine außergewöhnliche Vita aufwies, vor allem aber jede Menge Talent und Tatendrang mitbrachte. Die Zusammenarbeit, die als Experiment begann, ist längst zu einem Erfolgsmodell mit Vorbildcharakter avanciert.
Als Spätaussiedler kam Konstantin Seibel 2004 nach Deutschland. Er war dann erst einmal lange Zeit arbeitslos. Bei der Jobsuche in seiner neuen Heimat musste der motivierte junge Mann nicht nur wegen seiner Sprachbarriere, sondern auch aufgrund eines körperlichen Handicaps viele Schwierigkeiten meistern. Im Alter von 13 Jahren hatte er bei einem Stromunfall beide Arme verloren. Ans Aufgeben dachte er nie – im Gegenteil: Auch beruflich setzte er alles daran, sich zu etablieren. Über Fähigkeiten im Bereich Webentwicklung verfügte er bereits. Eine entsprechende Weiterbildung in Deutschland gab es jedoch nicht. „Also habe ich eine Umschulung zum Anwendungsentwickler begonnen“, blickt Seibel heute zurück. Seine Deutschkenntnisse sind inzwischen bereits deutlich besser geworden – auch dank seinem Arbeitgeber, der ihm trotz widriger Umstände bewusst eine Chance gegeben hat.
„Eines Tages stand er vor unserer Tür und fragte ganz mutig und direkt nach einem Praktikumsplatz“, erinnert sich Weinrich. Das Unternehmen war seinerzeit eigentlich auf der Suche nach einem Webentwickler. Entsprechende Hinweiszettel klebten an der großen Fensterfassade des Gebäudes in der Sandstraße. Obwohl in seiner Umschulung damals andere Lernschwerpunkte auf der Agenda standen und er das geforderte Profil nicht 1:1 erfüllte, versuchte Konstantin Seibel sein Glück – mit Erfolg. Der Agenturchef zeigte sich begeistert ob seiner Courage und gab ihm die Chance, sich mit einer schriftlichen Bewerbung vorzustellen.
Als diese wenig später tatsächlich eintraf, musste Weinrich zunächst schmunzeln: „Die Adresszeile stimmte zwar mit unserer überein, aber im Verlauf des Anschreibens fand ich viele Fehler, teilweise auch falsche Namen von Personen und Unternehmen.“ Aber darum sei es aufgrund der so speziellen Situation nicht vorrangig gegangen. „Wer sich mit so einem Handicap traut, an einer fremden Tür zu ,klopfen‘ und mit gebrochenem Deutsch nach einem Praktikum zu fragen, hat Respekt und Gehör verdient.“ Schon im kurzen persönlichen Gespräch habe Weinrich Potenzial und Motivation erkannt – zwei ganz elementare Faktoren, die letztlich mindestens genauso wichtig seien wie eine formale Qualifikation und eine fehlerfreie Bewerbung. „Wenn es rein nach der Qualität des Anschreibens und des Lebenslaufs gegangen wäre, hätte ich ihn nicht zu uns holen können, aber ich wollte ihm unbedingt die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Interesse und Talent hat er mitgebracht. Wir haben ihn in Webprojekte integriert und er hat seine Umschulung als Anwendungsentwickler auf Eis gelegt.“
Berührungsängste hätten beide Seiten nicht gehabt – für Sascha Weinrich ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Als Zivildienstleistender hat er bereits in jungen Jahren mit Menschen gearbeitet, die physische Handicaps hatten. „Das Geheimnis“, verrät er, „ist eigentlich ganz einfach: Wir müssen alle ganz normal miteinander umgehen. In unserem Inneren sind wir doch alle gleich. Es gilt, die Barrieren im Kopf aus dem Weg zu räumen.“ Mit dieser Herangehensweise begrüßte er auch Konstantin Seibel in den Reihen seiner Belegschaft. „Wichtig war für mich, zu erfahren, ob er wirklich arbeiten möchte und dies auch physisch leisten kann.“
Seibel erhielt zunächst Testaufgaben, im Rahmen derer er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Mit seinem Engagement und seiner Leistung überzeugte er. Als etwas schwieriger hätten sich gewisse sozialkritische Aspekte erwiesen, schildert Sascha Weinrich: „Man muss hier bei uns nicht nur programmieren können. Pünktlichkeit und Disziplin sind Punkte, die ihm anfangs nicht sehr leichtgefallen sind.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Das haben wir aber irgendwann auch hinbekommen.“ Das Team sei sich der Herausforderung im Umgang mit dem Praktikanten von Beginn an bewusst gewesen. Gerade die sprachliche Komponente habe in der Anfangszeit Hürden mit sich gebracht. „Wir hatten mitunter Probleme, ihn richtig zu verstehen. Kommunikation ist gerade in einer Agentur natürlich das A und O.“
Sobald klar war, dass Konstantin Seibel auch nach dem Praktikum im Team bleiben würde, verpflichtete das Unternehmen ihn zu einem im wöchentlichen Rhythmus stattfindenden Sprachkurs. Für den Agenturinhaber steht fest: „Wir wollen ihn dahin führen, dass er irgendwann im regulären Kundenkontakt eigenständig in deutscher Sprache kommunizieren kann.“ Eine Sonderbehandlung im Sinne von geringeren Arbeitsanforderungen bekommt Seibel nicht – und das aus gutem Grund, wie Sascha Weinrich einordnet. Es sei ganz entscheidend, einen den Umständen entsprechend normalen Umgang zu pflegen. Dies wirke sich positiv auf die Leistung Konstantin Seibels und letztlich auch auf die Stimmung sowie die Akzeptanz innerhalb der Belegschaft aus. „Wer sich als Mensch mit Handicap freiwillig in die Arbeitswelt begibt, muss auch bereit sein, alle Seiten davon kennenzulernen.“
Seibel benötigt aufgrund seiner körperlichen Konstitution einen speziell auf seine Bedürfnisse eingerichteten Arbeitsplatz, denn: Er programmiert mit den Füßen. Was für Außenstehende nach einer schier unlösbaren Aufgabe klingt, ist für den 37-Jährigen längst Alltag. Mit den Zehen bedient er Maus und Tastatur. Beide Gerätschaften sind im Übrigen absolut handelsüblich. „Wir haben ihn gefragt, ob er besondere Ausfertigungen benötigt oder wünscht. Das war aber nicht der Fall“, schildert Sascha Weinrich. Gleichwohl hat Konstantin Seibels Schreibtisch andere Maße als die seiner Kollegen.
Zudem hat die Agentur am Boden eine Lüftungsvorrichtung installiert, damit die Füße bei der Arbeit nicht kalt werden. So sind es vor allem die ganz praktischen Probleme, die in Seibels Berufsalltag konkrete Lösungen – und bisweilen ein gewisses Maß an Kreativität – erfordern.
Menschlich konnte sich Seibel aufgrund seiner sympathischen Ausstrahlung und seiner unkomplizierten Art bestens ins Team integrieren. Was die logistischen und arbeitstechnischen Herausforderungen betrifft, kann Sascha Weinrich auf die Unterstützung seitens der heimischen Agentur für Arbeit zählen. Diese zahlt einen fixen Teil von Seibels Monatsgehalt. Die zur Verfügung gestellte monetäre Hilfe nutzt die vyn marketing GmbH unter anderem, um den Deutschunterricht und bei Bedarf anfallendes Büroequipment zu finanzieren. Die rechtlichen Aspekte sind ebenfalls allesamt geklärt. Konstantin Seibel stehen 35 Tage Jahresurlaub und ein besonderer Kündigungsschutz zu.
„Ansonsten muss ich natürlich auch bei manchen Fragen in gewisser Weise Autodidakt sein, da ich nicht gerade ein erfahrener Experte im Scherbehindertenarbeitsrecht bin“, erklärt Weinrich. Viele Schwierigkeiten ließen sich aber gemeinsam beheben. „Was wir oft vergessen: Wir haben alle Probleme und müssen unser Päckchen tragen. Bei Konstantin sind die Hürden eben nur einfach direkt auf den ersten Blick ersichtlich. Menschen, die diesen einfachen Grundsatz verinnerlicht haben, können viel entspannter und unkomplizierter miteinander umgehen.“ Dies sei zugleich der wichtigste Ratschlag für alle Unternehmer, die ebenfalls mit dem Gedanken spielten, Arbeitnehmer mit sprachlichen oder physischen Handicaps einzustellen. Den Schritt zu wagen, könne einen großen Mehrwert mit sich bringen: „Wir reden alle immer über die schwierige Fachkräftesuche. Manchmal muss man einfach nur ein wenig den Blick weiten.“
Aus Sicht des Agenturchefs hat sich das Experiment in jeder Hinsicht gelohnt. Konstantin Seibel sei ein fester Bestandteil des Teams – und ein ganz normal arbeitender Kollege. Lächelnd fügt dieser hinzu: „Außer vielleicht, dass ich mit Hausschuhen im Flur unterwegs bin.“